Der Rucksack
Schon seltsam, was für Gefühle so ein Rucksack auslösen kann. Früher hat er einen vollkommen kalt gelassen, doch heute?
Heute löst er Angst aus, zumindest Unbehagen. Er lenkt die Blicke auf sich, zieht den Fokus vorbei eilender Passanten für wenige Sekunden auf sich und hinterlässt nachdenkliche Gemüter.
Das alles wäre wohl kaum der Fall, wenn er da nicht stehen würde, in dieser schlecht beleuchteten, aber gut einsehbaren Ecke.
Er steht dort einfach nur. Tut nichts. Hat keine besondere Aufschrift, nichts, was ihn ungewöhnlich machen würde. Er scheint niemandem zu gehören. Genau das macht ihn jedoch zur Bedrohung.
Vielleicht hat er schon viele Länder gesehen.
War im Sonnenschein in Paris unterwegs oder im grauen, regnerischen London. Vielleicht stand sein Eigentümer oder seine Eigentümerin vor dem Eifelturm und blickte hinauf oder vielleicht ließ er sich nass regnen, während von oben die Glockenklänge vom Big-Ben zu hören waren - vielleicht.
Es könnte auch sein, dass dieser Rucksack ein ganz gewöhnlicher Schulrucksack ist. Vergessen in dieser Ecke, als der Besitzer kurz zum Kiosk ging, um Zigaretten zu kaufen; dann aber schnell die Bahn kriegen wollte und ihn vergaß. Vielleicht bemerkt der Besitzer jetzt - gerade in diesem Moment - dass er etwas vergessen hat. Vielleicht.
Vielleicht hat der Rucksack auch eine ganz andere Geschichte. Vielleicht wurde er erst gestern gekauft, um heute… ja… um heute Menschen zu töten.
Ein Rucksack.
Wer würde uns für voll nehmen, gäben wir zu, dass wir Angst vor einer Tasche aus Stoff und Plastik haben? Haben wir aber.
Jeder ist froh, wenn er den Bahnhof verlassen und das Gepäckstück hinter sich lassen kann.
Blau. Ein wenig schwarz. Kein besonders teures Exemplar.
Fünf Herren vom Zoll kommen. Begutachten den Rucksack. Der Bahnhof wird gesperrt.
Dann wird er geöffnet. Ganz vorsichtig, ganz behaglich. Und zum Vorschein kommt…
“Janina, Klasse 2a, Rechnen” - ein Schulheft.
(Ausgegraben, Text von Maurice, 2005)